Der stille Held - Kurzgeschichte

Schlecht im Umgang mit Magie, schlecht in der Magieschule. Selbst den kleinen Nebenjob kriegt Luke nicht auf die Reihe. Als jedoch eine Bedrohung auf die Stadt zuhält, liegt das Schicksal der Bewohner ausgerechnet in seinen Händen.

 

Lesezeit: ca. 11 Minuten

 

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Luke hasste Schnee. Er war nass und matschig. Und außerdem dreckig von den Händlerkutschen, die regelmäßig durch die Straßen von Flöckbruck fuhren. Sie wurden von Vonison gezogen, Riesenpferden mit Knopfaugen und eingedrehten Hörnern zwischen den Ohren.

 

Nur noch zwei Häuser, dachte Luke. An zwei Häusern musste er noch Essen abliefern, dann konnte er Feierabend machen und zuhause ins Trockene einkehren. Seine Beine schmerzten wegen diesem verdammten Schrotthaufen von einem Fahrrad. Die Gangschaltung war hinüber, weswegen er sich auf einem zu hohen Gang die Straßen hinaufkämpfen musste. Zu allem Überfluss hatte man es versäumt, den Schnee zu räumen. Diese Straßenmeisterei war einfach unfähig. Und nicht nur die. Er trat fester in die Pedale.

 

 

Eine herannähernde Kutsche zwang ihn, auf den Straßenrand auszuweichen. Wegen der Augenklappe auf seinem linken Auge sah er sie beinahe zu spät und musste das Fahrrad in einem scharfen Winkel zur Seite reißen. Dabei kamen die Räder auf dem Glatteis ins Rutschen und das Fahrrad kippte um. Begraben unter diesem Schrotthaufen landete Luke auf einer trügerischen Schneedecke, unter der sich spitze Kieselsteine verbargen und an den Knien ein Loch in seine schwarze Hose rissen. Er fluchte. Kleidung war teuer.

 

Mit der Schulter war er gegen einen Baum geprallt. Schnee löste sich aus den Ästen und rieselte ihm in den Kragen. Die Kälte des schmelzenden Schnees nahm Luke nicht wahr. Vor allem um diese Jahreszeit wärmte ihn seine Feuermagie von innen heraus, dass es fast schon unangenehm war. Mit jedem Monat, der verging, schien sie wärmer zu werden. Mittlerweile brauchte Luke deswegen keine Jacke mehr.

 

 

Er warf das Fahrrad von sich und zupfte an seinen schwarzen Klamotten. Durch die wärmende Magie klebte der feuchte Stoff auf seiner Haut. Er hasste dieses Gefühl.

 

Die Box mit dem Essen war von dem Gepäckträger im Schnee gelandet. Luke sammelte sie auf und hob den Deckel. Schön angerichtet waren die Gerichte nicht mehr, aber immer noch essbar. Wenn dieses Missgeschick rauskam, würde ihn seine Mutter, die Gastwirtin, dafür rügen und er sich wieder mies fühlen. Als Alleinerziehende hatte sie es schon schwer genug und er machte ihr nichts als Ärger. Genauso wie ihm das Fahrrad. Die Kette war herausgesprungen. Es vergingen ein paar Minuten, bis er sie wieder eingefädelt hatte.

 

 

Mit der Box unter dem Arm stand er auf und hob das Rad hoch. Das Essen verfrachtete er zurück auf den Gepäckträger und er setzte die Lieferung auf dem quietschenden Schrotthaufen fort. Bis er zu dem ersten Haus ankam, war das Essen bereits ausgekühlt. Es folgte eine langwierige Diskussion der Kundin, die im Kreis redete. Lukes Angebot, das Essen mit seiner Feuermagie aufzuwärmen, nahm sie nicht an. „Du bist nicht einmal ein Feuermagier, lüg mich nicht an. Feuermagier haben kein schwarzes Haar“, bellte sie. „Ich will mit der Wirtin sprechen!“

 

„Dann schau morgen im Gasthaus vorbei, vielleicht kriegst du eine Entschädigung“, knurrte Luke.  

 

„Ich kann mich nicht erinnern, dir erlaubt zu haben, mich zu duzen.“ Die Frau stemmte die Hände in die Hüften. „Und ich werde ganz sicher nicht mehr vorbeischauen! Der Service lässt zu wünschen übrig! Ich will hier und jetzt mit deiner Chefin reden!“

 

„Hör mal. Ich muss hier noch jemandem außer dir das Essen zum Arsch tragen. Es ist vielleicht noch warm, aber wenn du mich hier aufhältst, trifft diesen Kunden dasselbe tragische Schicksal wie dich“, sagte Luke pampig. Es war ihm egal, dass nun auch die Freundlichkeit zu wünschen übrig ließ.

 

Die Frau blies vor Empörung die Backen auf. Da sie die Tüte mit dem Gericht immer noch nicht entgegen nahm, stellte Luke sie ihr einfach vor die Füße ab. „Geld“, verlangte er und streckte fordernd die Hand aus.

 

„Unhygienisch.“ Naserümpfend starrte sie auf die vielen Ringe an seinen Fingern.

 

„Wie du willst. Dann übergebe ich der Wirtin eben deine Adresse zum Geldeintreiben“, knurrte er und widerstand dem Drang, ihr vor die Füße zu spucken oder ihr den Mittelfinger zu zeigen. Er bohrte die Hände in die Taschen und stapfte durch den Vorgarten zurück zu dem Fahrrad auf der Straße.

 

„Das ist vollkommen in Ordnung, wenn sie vorbeikommt!“, rief ihm die Frau nach.

 

 

Auch die zweite Lieferung war kalt geworden. Doch die Kundin, eine alte Frau, zeigte Mitleid mit Luke, der in nassen und löchrigen Klamotten und mit finsterer Miene vor ihr stand, die Finger schwarz von der herausgesprungenen Kette. Sie bedankte sich bei ihm und gab ihm sogar etwas Trinkgeld. „Für ein neues Fahrrad, mein Junge.“ Dieses Trinkgeld würde er jedoch in die Kassa stecken müssen, wenn die erste Kundin nicht bezahlte.

 

 

Luke schwang sich auf das Fahrrad und trat den Heimweg an. Die Beschwerde der ersten Kundin würde seine Mutter erst morgen erreichen, aber für heute hatte er seine Arbeit getan. Er wollte möglichst schnell nach Hause. Was er dringend brauchte, waren ein entspannendes Bad und eine heiße Schokolade.

 

 

Die Abkürzung führte ihn über den Marktplatz. Die Verkäufer waren gerade dabei, ihre Stände abzubauen. Die Luftmagier unter ihnen ließen ihre übrig gebliebenen Waren per Magie in die Kisten schweben.

 

Luke ließ den Markplatz hinter sich und bog in eine breite Seitengasse ab. Da die gepflasterte Straße bergaufging, stieg er von dem Fahrrad ab und schob es missmutig vor sich her.

 

 

 Was für ein Tag.

 

Hoffentlich wurde der morgige Tag besser. Seit zwei Jahren half Luke seiner Mutter im Gasthaus aus. Sie fand, jetzt, wo er mit seinen achtzehn Jahren volljährig war, sollte er sein eigenes Geld verdienen, zumindest während der Ferien. Er wünschte, seine Mutter würde ihn wieder der Küche zuteilen, kochen konnte er. Wenn er es nicht schaffte, die Magieschule abzuschließen, würde er sein Dasein als Lieferbote fristen. Das hatte ihm seine Mutter angedroht, um ihn zu motivieren, denn im Moment sah es ganz danach aus, als müsste er das Schuljahr wiederholen. Er hatte sogar überlegt, die Magieschule gleich zu schmeißen. Auf dieses ständige Lernen hatte er keine Lust und was wollten sie ihm im vierten Jahr überhaupt noch Brauchbares beibringen? Die Aufgaben überstiegen mittlerweile seine Fähigkeiten, ein so starker Magier war er schließlich nicht. Wenn er jedoch die Häuser mit den steinernen Fassaden in Flöckbruck betrachtete, erinnerte er sich daran, dass er gerade auf dem Heimweg von der noch lästigeren Lieferdienstarbeit war.

 

 

Es brannten keine Lichter hinter den Fenstern, aber Rauch entstieg aus den Schornsteinen. Der Schnee schluckte die Geräusche, die der leise Wind vom Marktplatz hertrug. Die Seitengasse wirkte wie leergefegt, nur ein Tier stapfte an Luke vorbei. Erst schenkte er ihm keine Beachtung, aber dann wandte er sich um.

 

 

Beinahe hätte er das Fahrrad fallen gelassen.

 

Ein Hahn, größer als er, stakste durch die Gasse. Der schuppige Schweif verwischte die tiefen Krähenabdrücke nur oberflächlich, die das Tier bei jedem Schritt im Schnee hinterließ. Eine kleine Dachlawine löste sich und fiel auf ihn. Es breitete ein wenig die Flügel aus, um den Schnee von dem stählernen Gefieder zu schütteln.

 

Was machte ein Grauhahn hier?

 

Die Arena, fiel Luke ein. Hier in Starrland gab es eine Arena, in der Gefängnisinsassen sich bessere Haftbedingungen erkämpfen konnten, indem sie sich Raubtieren stellten. Eines gefährlicher als das andere. Irgendwie musste dieser Grauhahn entkommen sein.

 

Die großen Stacheln auf dem Schweif verhakten sich in Zaunlatten und rissen Teile des Holzes heraus, doch der Grauhahnschien es nicht einmal zu merken. Schnurstracks bewegte er sich weiter. Auf den Marktplatz zu.

 

Verdammt. Luke sah sich um. Wo war die Stadtwache, wenn man sie einmal brauchte? Hatten diese Flaschen überhaupt mitbekommen, dass ihnen ein Grauhahn entlaufen war?

 

 

So oder so, wenn Luke nicht handelte, würde dieses Tier eine grässliche Szene auf dem Marktplatz anrichten. Er warf das Fahrrad zur Seite und hetzte dem Grauhahn hinterher. Ohne dem Schrotthaufen war er immer noch schneller. Für seine Größe bewegte sich das Tier nur langsam voran. Es hinkte. Auf dem linken Krähenfuß entdeckte Luke eine blutverkrustete Wunde.

 

Bald war der Schweif zum Greifen nah und Luke musste Acht geben, nicht von den Giftstacheln erwischt zu werden.

 

Und jetzt? Er hatte sich keine Gedanken gemacht, wie er den Grauhahn aufhalten sollte. Ihn auf sich aufmerksam machen und so von dem Marktplatz weglocken? Nein, keine gute Idee. Er hinkte zwar, aber sobald man ihn aufscheuchte, würde er die Flügel ausbreiten und über den Boden gleiten. Luke hatte gesehen, welch hohe Geschwindigkeit dieses Tier erreichen konnte und was das Gift mit einem anstellte... Vor einem guten Jahr hatte er an einer Exkursion teilgenommen, die die Magieschule unternommen hatte. Seine Klasse hatte sich mehrere Arenakämpfe angesehen, um das Kampfverhalten dieser Raubtiere zu studieren. Für die Studenten gab es durch diese Exkursion einen saftigen Rabatt, anders hätte Luke sich diese teuren Tickets nicht leisten können. Verpasst hätte er nichts, dieses Spektakel war einfach nur grausam.  

 

 

Und wenn er den Grauhahn mit seiner Feuermagie verletzte? Umbringen würde es ihn nicht, dazu waren die Federn und die Haut zu dick, seine Magie zu schwach. Nein, auch eine dumme Idee. Das kam der ersten gleich. Er würde nur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

 

Der Markplatz kam ihn Sicht. Luke konnte durch seine feine Nase bereits die süßen Früchte, Kuchen und die Gewürze riechen. Ihm musste etwas einfallen. Schnell.

 

 

Er hob die Arme und der Rubin an einem der Ringe auf seinen Fingern leuchtete auf. Sofort strömte sein Magiestrom in die Fingerspitzen. Flammen schossen hervor, in einem hohen Bogen über den Grauhahn hinweg und regneten auf den Boden herab. Mit einem langgezogenen Krähen stoppte er.

 

Luke musste sich zur Seite werfen, ansonsten hätte ihn der peitschende Schweif erwischt. Wie erstarrt blickte er in die Flammen. Der Asphalt sollte gar nicht Feuer fangen können, doch die Flammen loderten hoch empor und versperrten dem Grauhahn den Weg zum Marktplatz. Die ungewöhnliche Hitze biss Luke selbst aus dieser Entfernung ins Gesicht. Was war das für ein Geruch? Feuer roch normalerweise nicht nach... Schwefel. Es riecht nach Schwefel. Luke presste den Ärmel auf seine Nase. Noch mehr von diesem Schwefelgeruch und er musste sich übergeben.

 

Und warum waren seine Flammen schwarz?

 

Zu mehr Überlegungen kam er nicht mehr. Der Grauhahn drehte sich zu ihm um und kreischte laut, als er ihn im Schneehaufen entdeckte. Der lange spitze Schnabel senkte sich in seine Richtung.

 

Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit. Wunderbar. Genau das, was ich nicht wollte. Er stieß einen Fluch aus. Gibt es irgendetwas, das du nicht in den Sand setzt?

 

 

Der Grauhahn scharrte mit den Füßen im Schnee und breitete die Flügel aus. Panisch riss Luke die Arme hoch und erschuf eine weitere Wand aus schwarzem Feuer. Hinter den Flammen sah er das Tier zurückzucken. Es war eingekesselt. Gelber Rauch stieg auf und verdichtete sich rasch.

 

„Feuer! Ruft die Stadtwache!“, tönte es von dem Markplatz.

 

„Schwarzes Feuer!“

 

„Höllenfeuer!“

 

Luke stand auf. Er musste hier weg, bevor die Stadtwache eintraf. Wenn man ihn in der Nähe dieser schwarzen Flammen erwischte, würde das für ihn nicht gut ausgehen. Hals über Kopf rannte er los.

 

 

So aufgewühlt, wie er war, würde er nun am liebsten bei seiner Großmutter auf eine heiße Schokolade vorbeischauen, das hatte ihn immer beruhigt. Allerdings gab es die Großmutter nicht mehr. Stattdessen kehrte er zu seinem Lieblingsplatz an einem der vielen Flüsse von Flöckbruck ein. Dort übte er normalerweise mit seiner Feuermagie, geschützt durch die Bogenbrücke vor den Blicken von Passanten, damit niemand sah, wie er sich in seiner Ungeschicktheit selbst verbrannte.

 

Müde lehnte er sich an einem Brückenpfeiler. Der Einsatz seiner Magie hatte ihn ausgelaugt. Sein Herz raste, hinter der Augenklappe pulsierte es schmerzhaft, in seinen Fingerspitzen kribbelte es unangenehm, als würden ihn tausende Nadeln piksen. Über sich hörte er zahlreiche vorbeieilende Schritte auf der Brücke. Eine brüllende Stimme trieb die Rennenden zu einem schnelleren Tempo an. Die Stadtwache war auf dem Weg zum Markplatz. Sie würde rechtzeitig eintreffen, Luke hatte ihr mit seiner Magie genug Zeit verschafft.

 

Ein Feuer dieses Ausmaßes hätte er niemals zustande bringen können. So mächtig war seine Magie nicht. Der Rubinring, sein Artefakt, das ihm einen Zugriff auf seine Magie ermöglichte, fühlte sich immer noch heiß an, aber er kühlte langsam ab. Das bedeutete hoffentlich, dass die Flammen vor dem Marktplatz erloschen.

 

 

Höllenfeuer, dachte Luke. Er streckte die Hand aus und ließ seinen Magiestrom in die Fingerspitzen fließen. Eine orange Stichflamme zügelte hervor. Er wollte schon aufatmen, da verfärbte sie sich schwarz. Erschrocken zog er seine Magie zurück. Auch die nächsten Versuche lieferten dasselbe Ergebnis.

 

Er ließ sich am Brückenpfeiler entlang in den Schnee sinken. Die Kälte erreichte seinen aufgeheizten Körper nicht, selbst die Nässe war ihm egal. Seine Feuermagie, wie er sie gekannt hatte, war am Erlöschen. Etwas Unheilvolles trat an ihre Stelle. Eine Weile starrte er vor sich hin. Die Magie in seinem Körper wirbelte wild durcheinander, wie seine Gedanken. Unter seinen Handflächen wurde der Schnee zu Wasser.

 

 

Reiß dich zusammen, verdammt, ermahnte Luke sich. Ihm war nicht geholfen, wenn er jetzt in Panik verfiel. Er stemmte sich aus dem Schnee und verließ seinen Lieblingsplatz. Es gab Antworten zu finden.