Leseprobe - Die Göttin im Exil


Diese Welt ist flach und nicht rund. Wusstet ihr das?

Oh. Nein. Ich meine nicht die Erde. Ich spreche von Hirudien.

Hirudien ist eine ganz eigenartige Welt, mit mittelalterlichen Städten, Dörfern und Landschaften. Trotz dessen gibt es dort Strom, man muss ihn allerdings ankurbeln. Aber es gibt ihn. Und das ist nicht die einzige Eigenart von Hirudien. Ich habe das nicht in irgendeinem Buch gelesen, ich weiß das alles aus erster Hand und ich möchte euch erzählen, wie ich zu all diesem Wissen gekommen bin. Ihr werdet in eine Geschichte über Magie und Liebe eingeweiht. Meine Geschichte. Vergessenes wird aufgedeckt, verloren Geglaubtes wird gefunden, tragische Dinge passieren.

Es ist eine magische Reise, auf der ich unter anderem von komischen Leuten und Wesen begleitet worden bin.

Wahrscheinlich wird mir niemand glauben. Doch ich kann es bestätigen. Alles, was ich erzähle, ist wahr.

KAPITEL 1

 

BEGEGNUNG

 

[…]

Ich spürte, wie etwas Kaltes, Weiches auf mich geworfen wurde. Lange dauerte es nicht, bis es in meinen Nacken schmolz und mir den Rücken hinunterfloss. In mir zog sich vor Kälte alles zusammen. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass das Schnee war.

Moment mal? Schnee? Ich öffnete die Augen und setzte mich auf.

„Meine Güte! Bist du in Ordnung? Hab ich dir wehgetan? Fehlt dir was?“, quasselte eine helle Stimme los. Ein Mädchen, ungefähr so alt wie ich, sah mich mit ihren dunkelbraunen Rehaugen besorgt an.

„Mein Name ist Laureen Bonnet“, sprach das Mädchen weiter und hielt mir die Hand hin. In der Linken hielt sie eine Schneeschaufel. „Es tut mir echt leid, ich habe dich nicht gesehen.“ Dann hielt sie inne. „Ich kenne dich doch!“

Völlig baff starrte ich Laureen an, als wäre sie eine neu entdeckte Tierart. Ihr dunkelbraunes, lockiges Haar trug sie kurz geschnitten und glänzte unverschämt – wie in den Werbungen für Glanzshampoos. Unter ihrem rosafarbenen Trenchcoat schaute ein dunkelblauer Minirock mit weißen Punkten hervor. Ihre Beine steckten in braunen, zugeschnürten Lederstiefeln, die ihr fast bis zu den Knien reichten.

Also, ich kannte sie nicht.

Ihre Hand sah ich schlicht und einfach nicht. Stattdessen wandte ich meinen Blick auf die Umgebung. Ich befand mich nicht mehr am See in der warmen Sonne, sondern saß mitten in einem kalten Schneehaufen in einem Vorgarten. Überall lag Schnee. Die Gebäude und die schmale Straße, die sich vor mir erstreckten, hatten etwas Mittelalterliches an sich. Ein paar Leute eilten im Laufschritt durch die Gassen. Einige von ihnen trugen in den Händen Einkaufstaschen aus Stoff. Obst und Gemüse waren darauf abgebildet. Meine Aufmerksamkeit galt jedoch der Kleidung der Bewohner. Niemand würde heutzutage im Alltag so herumlaufen. Fast alle vorbeilaufenden Bürger trugen dunkle Kutten, um sich vor der Kälte zu schützen. Die Leute wollten so schnell wie möglich nach Hause, bevor die Nacht hereinbrach. Moment. Es dämmerte bereits? Ich hatte doch eben erst mit meinem Vater zu Mittag gegessen. Doch jetzt zog sich ein sanfter, violetter Streifen, der langsam von Gelb zu Rot überging, über den Horizont. Die Sonne ging schon unter. Das konnte doch nur ein Traum sein.

„Stimmt was nicht? Hast du etwas genommen? Wo kommst du überhaupt her? Bist du stumm? Erkennst du mich nicht wieder?“ Die Fragen sprudelten ohne Unterbrechung nur so hervor.

Mein Blick wanderte wieder zu Laureen, die mich noch immer besorgt anstarrte, doch ich schwieg. Ob ich etwas genommen hatte? Nein. Ganz sicher nicht. Aber wie sollte man sich dann diesen mysteriösen Ort erklären? Es war, als hätte ich eine Zeitreise gemacht. Ob ich sie erkannte? Nein. Immer noch nicht. Sollte ich?

„Steh doch erstmal auf. Du wirst dich erkälten“, sagte Laureen. Gegen meinen Willen zog sie mich hoch aus dem Schneehaufen. Mein langer Pyjama war völlig durchnässt. Vor Kälte zitterte ich.

„Wo kriegt man überhaupt solche schicken Klamotten her?“, fragte Laureen verwundert. Schicke Klamotten? Das war mein peinlicher hellblauer Pyjama mit noch peinlicheren Hello Kittys darauf.

Laureen war eine richtige Quasseltante. Wann holte die beim Reden überhaupt Luft? Von mir erwartete sie keine Antwort.

„Komm, ich bring dich in eine warme Stube“, erklärte sie und führte mich sanft durch den Schnee im Vorgarten. Unser Ziel war eines der altertümlichen Gebäude, welches nur aus Backsteinziegeln bestand. Ein schwer leserlicher Schriftzug zog sich oberhalb der breiten Eingangstür aus dunklem Holz, aber ich konnte ihn trotzdem lesen. „Zum Goidenen Oachkatzlschwoaf.“ Ein Eichkätzchen war daneben aufgemalt. In den Pfoten hielt es eine Nuss und es grinste den Besuchern keck entgegen. Was war das denn für ein Gebäude? Es sah ein bisschen nach einer Taverne aus. Was mich aber mehr verwirrte, war die Tatsache, dass ich diesen Schriftzug lesen konnte. Warum? Er bestand aus Kringel, die alle gleich aussahen.

Stumm sah ich Laureen zu, wie sie die steinerne Eingangstreppe hinauf tappte. Lange dauerte es nicht, bis sie mein Zögern bemerkte. Fragend drehte sie sich zu mir um. „Stimmt was nicht?“, wollte sie wissen.

 Richtig. Da stimmte sehr wohl etwas nicht. Ich setzte zu meiner ersten Antwort an, doch ich wurde von einem lauten Ruf unterbrochen: „Da ist sie! Lass sie nicht entwischen!“

Überrascht drehte ich mich um und erblickte zwei Männer mittleren Alters in einer dunkelblauen Uniform mit goldenen Knöpfen. Einer von ihnen hielt in seinen Händen einen Schlagstock. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um Polizisten oder Ähnliches. Mit rasender Geschwindigkeit rannten die beiden auf mich zu. „Du da! Halt das blonde Gör fest!“

Wie bitte? Wollten mich die etwa festnehmen?! Warum?!

Ich überlegte nicht lange, sondern lief sofort los. Völlig verdutzt sah mir Laureen hinterher. Ihrem Blick nach zu urteilen, wusste auch sie nicht, was hier vor sich ging.

Ohne auf die eisige Kälte zu achten, hetzte ich durch die schmalen Straßen. Immer wieder gelang es mir in letzter Sekunde, entgegenkommenden Leuten auszuweichen. Obwohl ich im Sprint jedes Mal Bestzeiten erzielte, waren mir die beiden Männer dicht auf den Fersen. Verdammt, ich musste sie irgendwie abhängen. Bald würde es mit meiner Ausdauer vorbei sein. Wie wurde man Verfolger am besten los? Indem man sich unter eine Menschenmenge mischte. Und wo gab es die? Ein Marktplatz kam mir in den Sinn. Vielleicht existierte hier so etwas.

Zu dumm, dass ich mich an diesem Ort überhaupt nicht auskannte. Ziellos hastete ich über eine Brücke. Beinahe hätte ich ein kleines Kind über den Haufen gerannt, konnte ihm aber noch rechtzeitig ausweichen. Am anderen Ufer angekommen, hechtete ich an den Seitengässchen vorbei, während ich empörte Beschimpfungen der Leute über mich ergehen lassen musste, sobald ich sie aus Versehen anrempelte. Schließlich wurde die schmale Straße breiter. Links und rechts standen Verkaufstische.

Ein Marktplatz!

Doch meine Freude währte nicht lange. Der Anblick der wenigen Menschen, die hinter den Tischen zusammenpackten, enttäuschte mich wieder. Die Kunden waren bereits weg. Wie sollte ich bei einem leeren Marktplatz untertauchen?

Der Schnee, die Kälte und der eisige Steinboden erschwerten das Laufen. Meine Nase und Hals schmerzten bereits wegen der eisigen Luft. Ich merkte, wie ich langsam müde wurde.

Am besten, ich versteckte mich irgendwo. Vielleicht im erstbesten Haus.

Ich wagte einen Blick nach hinten. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass meine Verfolger ein gutes Stück aufgeholt hatten. Sie würden sofort sehen, wo ich mich verkroch. Ich hielt es daher für besser, weiterzulaufen.

Ich wandte mich wieder nach vorne. Zu spät bemerkte ich die Frau mit einer Schachtel in der Hand vor mir. Ein Zusammenstoß war unvermeidbar. Ausweichen konnte ich nicht mehr. Mit einem empörten Schrei der Frau stürzten wir beide auf den schneebedeckten Boden. Die Schachtel fiel aus ihrer Hand und der Inhalt – ein Sortiment an Stoffen aller Art – fiel in den Schnee.

„Kannst du nicht aufpassen, du unverschämtes Fräulein?“, keifte mich die Frau an. Ich starrte sie wortlos an. Unter ihrer offenen Kutte konnte man mittelalterliche Kleidung sehen. Die hellbraunen Augen der Frau blitzten mich gefährlich an. Ihr feuerrotes, abstehendes Haar unter dem Kopftuch verstärkte die Wirkung einer bösen, alten Hexe.

Ich wollte wieder aufstehen, doch dazu kam ich nicht mehr. Grob wurde ich hinten am Kragen meiner nassen Pyjama-Bluse gepackt und hochgehoben. Ich hielt meine Finger zwischen Hals und Ausschnitt, damit mich der Stoff nicht erwürgte.

„Hier ist Endstation!“, zischte mir jemand ins Ohr. Ich drehte den Kopf und erblickte die beiden Polizisten. Einer von ihnen hielt mich am Kragen hoch, während der zweite hämisch grinsend den Schlagstock immer wieder auf seine andere Handfläche schlug. Das war’s dann wohl.

Die Empörung der Frau schlug in Entsetzen um. Sie starrte mich an, als wäre ich eine lang gesuchte, sadistische Serienmörderin. Es war, als hätte es das bedrohliche Funkeln in ihren Augen nie gegeben. Ohne den Blick von mir abzuwenden, stand sie auf und wich langsam zurück. Dann drehte sie sich blitzschnell um und lief davon. Ihre Ware ließ sie einfach im Schnee liegen.

„In ihren Hosentaschen hat etwas geklimpert“, sagte der Polizist, der mich hochgehoben hatte. Daraufhin hörte der andere auf, mich mit dem Schlagstock einzuschüchtern und langte in meine Hosentaschen des Pyjamas. Mit einem geldgierigen Grinsen holte er die Anstecknadel heraus und präsentierte sie seinem Kollegen. „Was ist das denn Hübsches?“, lächelte dieser und seine Stimme triefte vor Geldgier. „Das lässt sich sicher teuer verkaufen.“

 „Los, abführen!“, sagte der Polizist mit dem Schlagstock und sein Kollege schubste mich vorwärts.